Zwei Mal kann man in diesen Tagen die Berliner Straßenbilder Ernst Ludwig Kirchners von 1913/1914 bewundern. Ein Mal im feinen Dahlem im Brücke-Museum. Da andere Mal in einem Milieu, das dem anarchischen Expressionisten in seiner Jugend vermutlich mehr zugesagt hätte: im "Kunstsalon Posin" im tiefsten Neuköllner Kietz. Der Ort liegt zwischen dem Böhmischen Friedhof, dem "Verein für Aserbaidschanisch-Deutsche Solidarität", einer Holz- und Kohlenhandlung und dem Tor des Hauses "Mit-Hilfe: Betreutes Einzelwohnen, Wohnungserhalt und Wohnungserlangung".
Beide Ausstellungen haben den 70. Todestag Kirchners zum Anlass. In Dahlem Gedenktagroutine, in Neukölln ein vertrackteres Motiv. 70 Jahre nach dem Tod eines Künstlers erlischt sein Urheberrecht. Darum darf man jetzt Kirchner-Bilder ganz legitim kopieren. Kopieren, "fälschen" aber ist die hohe Kunst der Brüder Evgeni, Semjon und Michail Posin. Die perfektionistischen Absolventen der Leningrader Akademie sind vor 24 Jahren nach Berlin gezogen.
Tritt man in ihre Schatzkammer ein, verschlägt es einem den Atem: Genau so müssen die improvisierten Ausstellungen der jungen Expressionisten ausgesehen haben. Ausrangierte Stilmöbel, rote Holzwände, schummeriges Licht. Der Blick bleibt lang an den Bildern hängen: Da sind sie, die weltberühmten Straßen- und Atelierszenen, da sind die pastosen Farbfelder, die dramatischen Pinselstriche, die zackigen schwarzen Konturen.
Lächelnd stehen sie da, die drei Meister, einem Gruppenportrait der russischen Intelligenzija um 1900 entstiegen mit ihren wallenden grauen Haaren und Prophetenbärten. "Wir machen auch unsere eigenen Bilder", sagt Evgeni, eine Kritik am angeblich Unschöpferischen des Kopierens vorsorglich vorwegnehmend. Aber ich will gar nicht kritisieren. Auch Kopien von solcher Perfektion seien doch "eigene Bilder". Die Idee vom einzigartigen Kunstwerk hat ja nicht immer die Kunstgeschichte beherrscht. Von der griechischen Skulptur wüssten wir fast nichts ohne die römischen Kopien. Das freut die Bärtigen. Allzu oft müssen sie sich Ironisches über ihr Handwerk anhören.
Wenn man Bilder neu schöpfe, müsse man sich einleben in die Seele des Künstlers, müsse äußersten Respekt entwickeln. Ein Bild zum zweiten Mal malen ist ein Akt der Liebe, er gelingt, wenn man dem Künstler so nahe kommt, dass alle Furcht erlischt. Im Hinterzimmer hängt die Mona Lisa, "täuschend echt" auch sie.
"Haben Sie keine Angst!", sagt Evgeni. Und dann darf ich ihr über die Wange streichen. Im Leben eines pensionierten Museumsdirektors gibt es selten Momente wie diesen.
Bis morgen, Ihr
Christoph Stölzl