Cicero - Magazin für politische Kultur - Ausgabe Februar 2010

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Echt falsch
von Christoph Stölzl

Kopie oder Fälschung? Nachschöpfung oder geistiger Diebstahl? Für drei russische Maler aus Berlin stellt sich diese Frage nicht. Ihre Gemälde huldigen den Meisterwerken der Kunst

Der Weg zur „Mona Lisa“ führt durch den Großstadt­dschungel Berlins, dort, wo er am wildesten ist: an der Ecke zur Neuköllner Karl-Marx-Straße, wo am schreiend bunten „Preistempel“ giftgelbe Rabattschilder „Insolvenzware“ und Sonderposten anpreisen. Dahinter liegen die besprayten Gründerzeithäuser der Wipperstraße. Der „Holz & Kohle“-Laden steht leer und wartet auf neue Mieter, ebenso wie die verlassenen „Wipper-Garagen“. Die Neuköllner haben anderes nötiger als Autopflege. Das „Tele-Internet-Café mit Spätkauf“ floriert und vielleicht auch „Elkes Nagel­stübchen“.

Mein Ziel liegt in der Mitte zwischen dem Lokal des „Vereins für Aserbeidschanisch-deutsche Solidarität“ und dem Tor zur „Mit-Hilfe: Betreutes Einzelwohnen, W
ohnungserhalt und Wohnungserlangung“. Das Schild „Kunstsalon Posin“ müsste mal erneuert werden. Spitzengardinen verdecken die Fenster. Hinter der Tür schimmert ein verblasstes Lila. Im schummerigen Licht, umhüllt von Zigarettenqualm, fällt der Blick zuerst auf die drei Brüder Posin. Lächelnd stehen sie da, die drei Meister, wie einem Gruppenporträt der russischen Intelligenzia um 1900 entstiegen mit ihren wallenden grauen Haaren und Prophetenbärten. Blickt man in ihre Schatzkammer, wird man von widerstreitenden Gefühlen überfallen. Da ist das Schäbige eines „Boheme“-Quartiers, die ausrangierten Fin-de-Siècle-Möbel wirken so pittoresk, als seien sie Bühnenbilder für eine Puccini-Oper. Aber die Wände entlang, scheinbar achtlos gestapelt und übereinandergehängt: ein Meisterwerk der Kunstgeschichte nach dem anderen.

Dominiert wird der Raum von den Straßenbildern Ernst Ludwig Kirchners. Vor einem Jahr jährte sich sein Todestag zum 70. Mal, und die Posins hatten sich ausgedacht, den Expressionisten zu ehren, indem sie seine berühmtesten Bilder nachschufen: den „Potsdamer Platz“ von 1914 aus der Berliner Nationalgalerie, aber auch die „Straßenszene“, die vor zwei Jahren aus dem Brücke-Museum an die Erbin des jüdischen Besitzers vor 1933 zurückgegeben wurde – heute hängt sie in Ronald Lauders New Museum an der New Yorker Upper East Side. Auch ein imaginäres Selbstporträt Kirchners aus dem Jahr seines Suizids lehnt da unter einem Bilderstapel.

„Man sieht nur, was man weiß“ ist eine triviale, aber bewährte Kunsthistorikerformel. Im Kunstsalon Posin weiß man, dass diese Kirchner-Bilder in den vergangenen 24 Monaten entstanden sind und deshalb schlechthin nicht original sein können. Aber an diesem Vor-Urteil wird man in der Neuköllner Realität irre. Alles ist da: die pastosen Farbfelder, die dramatischen Pinselstriche, die zackigen schwarzen Konturen, das Durchscheinen der hastig bemalten Leinwände, die ganze Spontaneität. Vielleicht das Einzige, was dem Besucher das Vertrauen in sein unbestechliches Auge zurückgibt, ist die allzu blanke Frische der Rahmen.

Ein bedeutender deutscher Kunsthändler, ein Kenner des Expressionismus aus langjährigem Umgang mit den Originalen, meinte nach einem Blick in den Salon zu mir: „Da kann einem ja angst und bange werden! Manche der Kopien sind so dramatisch gut, dass man nur hoffen kann, dass damit kein Schindluder getrieben wird!“ Dergleichen aber ist nicht zu befürchten. Die Posins üben ihr Handwerk im vollen Licht aus und sind Künstler, die sich das „Fälscher“-Etikett ganz bewusst angeheftet haben, mit einer Mischung aus Stolz und Ironie. Was in ihnen noch einmal aufscheint, ist ein Kunstbegriff, der im Historismus des 19. Jahrhunderts seine letzten Triumphe feierte, um dann mit der Moderne unterzugehen: der Künstler als Virtuose, als Universalmeister, der im Prinzip alles kann, jeden Stil, jede Anverwandlung einer Vorlage. In ihrem „Leistungsangebot“ offerieren die Brüder „Alte Meister, Impressionisten, Expressionisten und weitere Kunstrichtungen entsprechend Kundenwunsch, Ikonenmalerei, Wand- und Deckenmalerei, Bilderrahmen, Bemalung und Restaurierung von Möbeln aller Stilrichtungen, Porträts als Büste und Skulptur in Gips, Keramik und anderen Materialien, aber auch Interieurgestaltung“. Lebte der Bayernkönig Ludwig II. heute, die Gebrüder Posin wären seine idealen Partner bei der Realisierung seiner Schlösserträume.

Wie wird man Meisterfälscher? Die Posins (Semjon, geb. 1944, Jevgeni, geb. 1947 und Michail, geb. 1948) stammen aus einer Leningrader Intellektuellenfamilie. Der Vater, ein Japanologe, geriet 1937 in die Mühle des Stalin’schen Terrors und entging nur knapp der Erschießung. Später wurde er nach Sibirien verbannt und schlug sich als Englischlehrer durch. Die Brüder wuchsen in Sibirien auf, die westeuropäische Kultur war fern. Aber irgendwie fanden Kunstpostkarten den Weg ins Leben der verbannten Kinder. Schon mit sieben Jahren wussten sie, wie ein Bild von Toulouse-Lautrec aussieht, ein Poussin, ein Cézanne. Mit Bleistift und Wasserfarben versuchten sie um die Wette, einen Gainsborough nachzumalen. Alle drei erkämpften sich die Rückkehr nach Leningrad, was wegen der Biografie des Vaters äußerst schwierig war. Aber die unbezweifelbare Begabung der Brüder für die akademische Malerei öffnete dann doch die Tür. Zwischen 1958 und 1979 absolvierten sie zeitversetzt die vorgeschriebenen Fachschulen, dann die Kunstakademie und danach noch das Repin-Institut, benannt nach dem prominenten russischen Maler des 19. Jahrhunderts. An der Leningrader Akademie wurde streng nach klassisch-akademischer Manier ausgebildet. Die Tradition des perfekten malerischen Handwerks ging zurück auf die Petersburger Akademie, an die die Zaren regelmäßig Professoren aus Westeuropa geholt hatten.


Als der Sowjetstaat in den zwanziger Jahren die Grenzen schloss, blieb die traditionelle Ausbildung im „Reservat“ der offiziellen sowjetischen Kunst am Leben. Stalin verlangte von seinen Künstlern Verständlichkeit und Volkstümlichkeit, darum wurden Porträt- und Landschaftsmalerei nach den alten akademischen Regeln gelehrt, um am Ende „Meister“ hervorzubringen – vergleichbar der unwandelbaren hohen Schule des russischen Balletts, in dem die höfische Tanzkultur Frankreichs weiterlebte. Im dritten Studienjahr wurden die Studenten dann in die Eremitage und ins Russische Museum geschickt, um die russischen Meister des 18. und 19. Jahrhunderts nachzuschaffen. Die Ergebnisse wurden sehr streng benotet.

Mag sein, dass die systemkritische Tradition der Familie dazu beitrug, dass die Posin-Brüder nach der Akademie in die Dissidentenszene der inoffiziellen Kunst gerieten. Optimistischen „Sozialistischen Realismus“ mochten sie nicht malen. Nachdem sie in Konflikt mit dem Sowjetstaat gerieten, kamen sie dann ab 1984 einer nach dem anderen in die Bundesrepublik. Als sie in Berlin Fuß zu fassen versuchten, gab es noch keine Kopieridee. Erst die H
ärte des westlichen Kunstmarktes, auf dem wenig Platz war für den religiösen Symbolismus, dem sich die Posins verschrieben hatten, zwang sie, ihr akademisches Training fruchtbar zu machen. Im Jahr 2001 gründeten sie den „Kunstsalon Posin“ in Neukölln.

Wie nun sieht der Prozess des Kopierens aus? Das akribische Studium der zeitgenössischen Malmittel versteht sich von selbst, sagen die Brüder. Aber wichtiger als das sei die Versenkung in die historische und biografische Situation, in der ein Bild entstanden ist. Die Posins sind große Leser. Besonders angetan haben es ihnen die Künstler, die reiches autobiografisches Material oder umfangreiche Briefwechsel hinterlassen haben, wie etwa Vincent van Gogh. Bei ihm wechselten Pinselführung und Farbauftrag sehr genau entlang seinen Stimmungslagen, wie sie die Briefe spiegeln.

Was die Posins wollen, ist vergleichbar mit der Neuschöpfung einer musikalischen Partitur in einem Konzert, ähnlich auch der Nacherschaffung einer Rolle durch den Schauspieler. Nicht Quadratzentimeter für Quadratzentimeter soll das Bild entstehen, sondern als Wurf, als Gesamteindruck, als Neuschöpfung. Es geht um Ausstrahlung, es geht – sehr russisch! – um die „Seele des Künstlers“: „Man muss denken wie der Maler“, sagen die Posins. Dazu gehört auch ganz praktisch, im historisch verbürgten Tempo zu malen. Renaissance-Bilder beispielsweise müssen viele Tage auf der Staffelei bleiben, ein impressionistisches Bild mit seinen spontanen Pinselhieben muss in Stunden fertig sein. Im Idealfall entsteht, durch extreme Einfühlung in die Persönlichkeit, so etwas wie eine Zweitfassung von Künstlerhand. „Ein Bild zum zweiten Mal malen, ist ein Akt der Liebe“, sagt Semjon Posin. „Er gelingt, wenn man dem Künstler so nahekommt, dass alle Furcht erlischt.“

Der Rundgang im Neuköllner Salon mit seinen El Grecos, Kirchners, Van Goghs und Klimts ist aufregend genug. Vollends bizarr aber wird es, wenn man einen Ausflug nach Brandenburg ins „Fälschermuseum“ von Großräschen macht. Über 100 Bilder der Posins hängen dort, eine Grand Tour durch die europäische Kunstgeschichte. Auftraggeber war der Unternehmer Gerold Schellstede, der nach der deutschen Einigung aus Oldenburg nach Brandenburg kam, zuerst mit einem Möbelhaus Erfolg hatte und sich dann als Hotelier mit der IBA Fürst-Pückler-Land zusammentat, die Industriewüsten renaturiert. In Großräschen, nahe der Autobahn Berlin-Dresden, hatte die „Ilse-Grube“ 35 Jahre lang 330 Millionen Tonnen Braunkohle abgeräumt und ein gigantisches, 70 Meter tiefes Loch hinterlassen. Seit März 2007 wird es geflutet. 153 Millionen Kubikmeter Wasser sind nötig, damit hier eine „traumhafte Seenlandschaft“ (IBA-Prospekt) entsteht.

Das „Lausitzer Seenland“ ist ein gigantisches Projekt. Aus Spree, Neiße und Schwarzer Elster wird Wasser in die vom Braunkohlebergbau ruinierte Landschaft gepumpt. 30 Seen werden entstehen. Das ehemalige Ledigenwohnheim der Braunkohlenfirma, ein Bau von schlossartigen Dimensionen, wurde von Schellstede zum Vier-Sterne-Hotel umgerüstet und steht an der Kante zum Loch. Im Jahr 2015 wird es seinen Titel „Seehotel“ zu Recht tragen. Bis dahin müssen die Bilder der Posins die Hauptattraktion bilden. Rembrandts monumentale „Nachtwache“ bildet den Mittelpunkt. Flankiert von Dürers Aposteln und Goyas „Nackter Maja“ ist der Platz davor zum beliebtesten Trauungsort der Gegend avanciert.

In Großräschen, wo auf Sichtweite des künstlichen
Rembrandts eine künstliche Seenlandschaft entsteht, kann man ins Grübeln kommen über die Kriterien von echt und falsch. Die europäische Kunstgeschichte und unsere Denkmalpflege beharren auf der materiellen Substanz als Kriterium der Authentizität. Die asiatische Kunstphilosophie sieht das anders: Hier gilt die perfekte 1:1-Neuschöpfung nach altem Vorbild oft als gleichwertig.
Die Posins halten sich aus solchen Theoriekonflikten heraus. Sie freuen sich lieber an Besuchern wie mir, der im Neuköllner Hinterzimmer etwas tun darf, was ihm als früherem Museumsdirektor nie vergönnt war: „Haben Sie keine Angst!“, sagt Jevgeni Posin. Und dann darf ich der Mona Lisa über die Wange streicheln.

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